Zentrale Argumente der AG Selbstverwaltung zur Gemeindegebietsreform

Die Kernbotschaft der Arbeitsgemeinschaft Selbstverwaltung zum Thema Gebietsreform läßt sich in wenigen Punkten zusammenfassen:

  1. Ein zentraler Baustein der bürgerlichen Demokratie ist die kommunale Selbstverwaltung durch die Bürger. Tägliche bürgerliche Demokratie ist indirekte Demokratie. Es macht deshalb einen Unterschied, ob ein Gemeinderatsmandat fünfzig Wählerstimmen oder 250 Wählerstimmer erfordert. Im ersten Fall hat jeder interessierte Bürger die Chance, sich der Wahl ohne überbordende Vorbereitung mit Erfolgsaussichten zu stellen. Im zweiten Fall bedarf es dagegen bereits einer Organisation, die für ihn Wählerstimmen einwirbt, einschließlich aller Abhängigkeiten, die das mit sich bringt. Der erste Fall ist unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Selbstbestimmung dem zweiten Fall vorzuziehen. Abweichungen bedürfen sehr ernsthafter Begründung.
  2. Bürgerliche Selbstverwaltung umfaßt notwendig das kommunale Haushaltsrecht einer Bürgergemeinschaft sowohl auf der Einnahmen- wie der Ausgabenseite.
  3. Die Bürger bedienen sich bei ihrer Selbstverwaltung professionalisierter Verwaltungen auf kommunaler Ebene. Diese professionalisierten Verwaltungen sind also nicht die Selbstverwaltung, sondern sie unterstützen die bürgerliche Selbstverwaltung. Sie sind inhaltlich nicht Organ des Zentralstaates, sondern Instrument der Bürgergemeinschaft vor Ort.
  4. Die Struktur der professionalisierten kommunalen Verwaltung hat sich deshalb nach den Bedürfnissen der Bürgergemeinschaften sowie der mit der Selbstverwaltung befaßten und für sie durch Wahl mandatierten Bürger zu richten.
  5. Der seinem Wesen nach dezentrale ländliche Raum verwaltet sich deshalb am besten dezentral selbst. Das ist derzeit reibungslos der Fall. Eingriffe in diese funktionierende bürgerliche Selbstverwaltung vor Ort bedürfen sehr starker Begründung. Gegriffene Mindesteinwohnerzahlen und unbelegte Behauptungen über undefinierbare Zentralisierungsvorteile reichen keinesfalls aus.
  6. Die erforderliche höhere Flexibilität der professionalisierten Verwaltung in der Fläche wird im Freistaat durch die Einrichtungen der Verwaltungsgemeinschaft und der erfüllenden Gemeinde gewährleistet. Beide verbinden ein hohes Maß an bürgerlicher Selbstbestimmung in den Mitgliedsgemeinden vor Ort mit effizienter Verwaltung. Die Verwaltungsgemeinschaft und die erfüllende Gemeinde sind deshalb die zukunftsorientierten Institutionen der professionalisierten kommunalen Verwaltung im ländlichen Bereich. Sie sind gegebenenfalls unter Wahrung der Entscheidungsrechte der Mitgliedsgemeinden weiterzuentwickeln.

Stellungnahme vom 28.09.2015 – Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Selbstverwaltung …

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Selbstverwaltung zum Kommunalen Leitbild “Zukunftsfähiges Thüringen“ der Landesregierung

 

Bürgerliche Selbstverwaltung kein Thema für die Landesregierung

Seit dem 22. September liegt das Kommunale Leitbild „Zukunftsfähiges Thüringen“ der Landesregierung des Freistaates vor. Und wie erwartet bleibt das Leitbild dem statischen Denken in Einwohnerzahlen verhaftet. Der Bürger kommt nur als ein von der Bürokratie „Zu Verwaltender“ vor. Die Bürgerschaft als sich selbst verwaltende örtliche Gemeinschaft und deren gewählte Bürgermeister und Räte spielen für die Landesregierung ersichtlich keine Rolle.

 

Dezimierung der Zahl der gewählten Vertreter

Die Lage klärt sich, wenn man die beschönigende Sprache des Leitbildes in verständliches Deutsch überträgt. Es geht um die radikale Veränderung der Gemeindegrößen in der Fläche auf die Norm von „6.000 bis 8.000 Einwohnern im Jahr 2035“. Übersetzt läuft das in heutigen Zahlen auf im Schnitt 12.000 Einwohner und mehr pro neu zu schaffender Einheitsgemeinde hinaus. Je größer aber eine Gemeinde ist, desto geringer wird nach den Vorschriften der Thüringer Kommunalordnung ebenso die Zahl der gewählten Gemeinde- bzw. Stadträte im Verhältnis zur Zahl der Wahlberechtigten wie auch die Zahl der gewählten Bürgermeister. Zur beispielhaften Illustration: für die Zusammenfassung von 18 Gemeinden mit 750 Einwohnern zu einer Einheitsgemeinde mit 13.500 Einwohnern folgt aus § 23 der Thüringer Kommunalordnung die Verringerung der Zahl der gewählten Gemeinderäte von vorher insgesamt 144 auf 24 und die Reduzierung der Zahl der gewählten Bürgermeister von 18 auf einen. Mithin verringert sich die Zahl der gewählten Mandatsträger von 162 auf 25. Von sechs gewählten Vertretern der Bürgergemeinschaften bleibt nach der Gebietsreform noch einer übrig. Das Leitbild propagiert also die nachhaltige Ausdünnung der täglichen demokratischen Selbstverwaltung durch starke Verringerung der Zahl der gewählten Vertreter vor Ort. Ein ernsthafter Ersatz ist nicht zu erkennen. Denn ein Ortschaftsrat mit Beratungsfunktion ist in keiner Weise zu vergleichen mit einem echten Gemeinderat mit grundgesetzlich garantiertem vollem eigenem Haushaltsrecht.
Dieses Hinausschieben der demokratischen Selbstbestimmung aus der Fläche ist bemerkenswert für eine Landesregierung, deren Mitgliedsparteien sich dem Instrument der Volksabstimmung erklärtermaßen verschrieben haben, gerade um demokratische Mitwirkung abzusichern. Sobald der mündige Bürger nicht nur ein Kreuz macht, sondern die Sache selbst in die Hand nimmt, ist die Demokratie anscheinend nicht mehr der Verteidigung wert. Möglicherweise entzieht sich das kommunalpolitische Engagement der Bürger der Kontrolle der Regierungsparteien so sehr, daß sie sich dafür nicht zuständig fühlen.

 

Keine Kostenersparnisse oder Qualitätsverbesserungen zu belegen

Angeblich soll durch die geplante Vervielfachung der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Gemeinden in der Fläche eine bessere Verwaltung erreicht werden. Dabei wird außer Acht gelassen, daß mehr als 80 Prozent der Gemeinden in Thüringen unter Beibehaltung ihrer Selbständigkeit bereits durch gemeinsame Verwaltungen betreut werden. Die dafür vom Gesetzgeber geschaffenen Institutionen der Verwaltungsgemeinschaft und der erfüllenden Gemeinde bieten Verwaltungsleistungen auf höchstem Niveau unter Wahrung der kommunalen Selbstbestimmung der Mitgliedsgemeinden. Es ist nicht erkennbar, daß durch die im Leitbild vorgesehenen Gemeindezusammenschlüsse nennenswerte Vorteile bei den Kosten oder der Qualität dieser Verwaltung erreicht werden könnte. Denn die richtigen Verwaltungsgrößen sind in vielen Fällen bereits gegeben. Wie auch immer geartete Grenzen bei der Aufgabenerfüllung, wie das Leitbild sie behauptet, sind dagegen keineswegs in Sicht. Vielmehr garantiert das Zusammenspiel von gewählten Bürgermeistern und Räten der Einzelgemeinden mit der professionalisierten Verwaltung der Verwaltungsgemeinschaften und erfüllenden Gemeinden die sehr gute und äußerst flexible Aufgabenerfüllung in der Fläche. Auch die vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen können keine besonderen Vorteile aus Gemeindezusammenschlüssen gegenüber Verwaltungsgemeinschaften statistisch nachweisen. Allein der sehr große Nachteil verringerter demokratischer Kontrolle ist unbestreitbar gesichert. Nicht zu reden von den Umstellungskosten, die mit der hauptsächlich politisch wirkungsvollen Neugestaltung der Fläche einhergehen.

Das ebenso beliebte wie platte Argument der Ministerialen, daß die Verringerung der Zahl der Mandatsträger und der zu erstellenden Satzungen zu geringeren Kosten führe, ist offensichtlich zu kurz gedacht. Denn die Platitüde läßt völlig außer Acht, daß die gewählten Vertreter durch ihre Satzungs- und Haushaltsrechte entscheidende Kontrollfunktionen ausüben. Sie sorgen in der Fläche sehr engmaschig dafür, daß angemessene lokale Steuern und Abgaben erhoben werden, daß die vorhandenen Mittel in die besten Verwendungen vor Ort fließen und daß sparsam gewirtschaftet wird. Die Kosten ihrer Tätigkeit spielen Bürgermeister und Räte dadurch allemal wieder ein, wie Parlamente und gewählte Exekutivspitzen das in der bürgerlichen Demokratie eben so tun.

 

Bürgerservicebüros statt Selbstverwaltung

Vermutlich unfreiwillig absurd wird das Leitbild, wenn es für die Zeit nach dem großen Umpflügen der Demokratie in der Fläche organisatorisch konkret wird. An die Stelle der frei gewählten kommunalen Vertreter vor Ort mit vollem gemeindlichem Haushaltrecht tritt nach dem Willen der Landesregierung             – das Bürgerservicebüro. Bei ihm soll anscheinend der Bürger seine Eingaben gesammelt abgeben. Diese Art von Bürgernähe braucht in der Fläche niemand. Die Kommunalverwaltung in der Fläche findet bereits vorbildlich als demokratische Selbstverwaltung der Bürgergemeinschaften vor Ort statt, unterstützt durch die Verwaltungsgemeinschaft und die erfüllende Gemeinde.  Da gibt es nichts neu zu erfinden.

 

Diese Gemeindegebietsreform braucht niemand

In der Zusammenschau ergibt sich: die Gewichte der Demokratie in der Fläche sollen offenbar grundlegend neu verteilt werden. Der sich selbst verwaltende Bürger hat zurückzustehen und die Zentralverwaltung der Einheitsgemeinde rückt mit einem Bürgerservicebüro an seine Stelle. Nennenswerte Ersparnisse oder Qualitätsverbesserungen können nicht erreicht werden. Denn schlagkräftige zusammengefaßte Verwaltungen für die Fläche gibt es bereits in Form der Verwaltungsgemeinschaften und der erfüllenden Gemeinden. Statt weiter an diesen hervorragend geeigneten dezentralen Institutionen zu arbeiten, um sie noch besser auf die Bedürfnisse der Demokratie in der Fläche einzustellen, wird die zentralisierte Einheitsgemeinde propagiert, PR-tauglich aufgehübscht durch das eine oder andere versprengte Bürgerservicebüro.

Vielleicht geht man in Erfurt ja davon aus, daß sich mit der Gemeindegröße auch die Wahlergebnisse in der Fläche denen in den Großstädten annähern. Das wäre wenigstens ein nachvollziehbares Argument für diese Gebietsreform; leider aber auch das Einzige. Denn der Rest lohnt wahrlich den Aufwand nicht.

Als Fazit bleibt: Diese Gemeindegebietsreform braucht niemand.

– Arbeitsgemeinschaft Selbstverwaltung –